Startseite » Themen » Offener Brief an die Staatsregierung

Offener Brief an die Staats­re­gie­rung

28. Mai 2020
Offener Brief an die Staatsregierung

Heute hat eine Abordnung des Bellevue di Monaco am Innenministerium einen offenen Brief übergeben. Darin werden die bayerische Staatsregierung, die Bezirksregierungen, Städte und Landratsämter aufgefordert, endlich wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um auch Menschen die auf engstem Raum in Gemeinschaftsunterkünften, Ankunfts- und Ankerzentren leben, vor der Infektion mit Covid-19 zu schützen! in den vergangenen Wochen von zahlreichen und schwerwiegenden Missständen gehört – von Betroffenen, von Kolleg*innen, in den Medien. Mittlerweile sind drei Menschen aus Massenunterkünften in Bayern an der Infektion gestorben.

Zahlreiche Parteien und Organisationen, darunter die Humanistische Union e.V. Landesverband Bayern, haben diesen Brief unterzeichnet.

Begleitet wurde die Übergabe durch eine künstlerische Performance-Aktion, an der auch Geflüchtete aus den Gemeinschaftsunterkünften beteiligt waren und in der, durch Pappfiguren verstärkt, die Enge symbolisiert wurde, die in den Unterkünften herrscht.

Der Offene Brief im Wortlaut:

München, den 28. Mai 2020

Offener Brief zur aktuellen Situation von Geflüchteten
in Massenunterkünften

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Markus Söder, sehr geehrter Herr Innenminister Joachim Herrmann, sehr geehrte Regierungen der bayerischen Bezirke, sehr geehrte Landratsämter, sehr geehrte Kommunen,

am 3. Mai ist der dritte Asylsuchende an Corona verstorben. Alle drei Toten lebten in Bayern, es ist der zweite Geflüchtete in München, der der Viruserkrankung erlegen ist. Der bayerische behördliche Umgang mit Geflüchteten setzt diese mindestens fahrlässig, wenn nicht vorsätzlich stark erhöhten Infektionsrisiken aus. Dadurch ist es Geflüchteten nicht möglich, sich selbst und ihre Nächsten zu schützen.

Gemeinsam mit vielen anderen Organisationen appellieren wir mit allem Nachdruck an die Bayerische Staatsregierung, die Bezirksregierungen, die Städte und Landratsämter: Sorgen Sie dafür, dass auch Geflüchtete geschützt werden und sich selbst schützen können!
Als Personen und Organisationen stehen wir vielfältig mit Geflüchteten in Kontakt und konnten dabei erfahren, dass der Schutz vor Corona-Infektionen in Unterkünften auf sträfliche Weise vernachlässigt wird. Während der gesamten Bevölkerung „social distancing“ verordnet wird, nimmt man billigend in Kauf, dass Geflüchtete sich in Unterkünften in der Regel nicht an diese Auflagen halten können. Die beengten Verhältnisse, die dichte Belegung der Zimmer, die gemeinsame Nutzung von Kochgelegenheiten und sanitären Einrichtungen führen dazu, dass Geflüchtete permanent in Angst leben müssen, sich oder andere anzustecken, weil ein Ausweichen nicht möglich ist. Atemmasken, die etwas Schutz bieten können, sollen sich die Geflüchteten selber nähen. Die Einschränkungen des Kontakts zu Haupt- und Ehrenamtlichen führen dazu, dass Geflüchtete schlecht informiert sind, dass sich Gerüchte und Falschbehauptungen schnell verbreiten und dadurch ein optimales Verhalten in der Pandemie sehr erschwert wird. Die Weitergabe von Informationen im Falle eines Infektionsfalles oder einer Quarantäne und den damit einhergehenden Maßnahmen ist in vielen uns bekannten Fällen absolut ungenügend. Die Verantwortlichen schaffen es oft nicht die Betroffenen adäquat aufzuklären und das Vorgehen transparent zu machen. Dies führt zu großer Verunsicherung und auch Panik. Die sporadischen schriftlichen Aushänge der Behörden reichen nicht, oft fehlt in Unterkünften ein WLAN für die Informationen aus dem Internet.

Geflüchtete sind meist verpflichtet, in diesen Unterkünften zu leben. Sie haben es nicht in der Hand, sie haben keine Wahl, sie sind ausgeliefert. Umso mehr sehen wir die verantwortlichen Behörden in der Pflicht, ihrer Verantwortung für den Schutz der Unterkunftsbewohner*innen endlich nachzukommen.

Diese Verantwortung wird vielerorts sträflich vernachlässigt. Eine „Entzerrung“ der Belegungsdichte fand in manchen AnkER-Zentren statt, in staatlichen Gemeinschaftsunterkünften oder Unterkünften der Landkreise ist hier wenig bekannt. Die Geflüchteten leben so dicht beieinander, dass die Gesundheitsämter bei einem Infektionsfall regelmäßig die gesamte Unterkunft oder eine Etage unter Quarantäne stellen. Nicht immer werden Infizierte aus der Unterkunft herausgeholt. Oft bleiben sie zumindest tagelang nach Bekanntwerden der Infektion in der Unterkunft und teilen sich z.B. die Sanitäranlagen mit vielen anderen Geflüchteten. Treten weitere Infektionen auf, wird die vierzehntägige Quarantäne noch mal verlängert. Die Bewohner*innen mancher Unterkünfte, wie in Geldersheim oder Landshut, sind inzwischen schon sechs Wochen in Dauerquarantäne. Der Schutz Geflüchteter in der Unterkunft vor Ansteckung wird mindestens fahrlässig gehandhabt, oft wird zu spät reagiert, oft sieht man dann nur noch die Möglichkeit, dass man Unterkünfte einzäunt und mit Security bewacht, wie am Osterwochenende in Rosenheim. Es bleibt zu untersuchen, wie sich, wie in Salzweg, von 80 Bewohner*innen mehr als die Hälfte infizieren können, bevor dies der Verwaltung auffällt.

Eine Identifizierung von Risikopersonen, also schwangeren, kranken oder älteren Personen, und deren Verlegung an andere Orte findet nur sporadisch, willkürlich und dilettantisch statt. Behörden verschanzen sich hinter der Aussage, dass Geflüchtete von sich aus auf Risiken hinweisen müssten. Oft stellen sich Verantwortliche die Frage nach Risikopersonen erst nach dem ersten Infektionsfall in der Unterkunft.

Wir fordern:
• Für alle, auch für Geflüchtete, muss gelten: jede Person muss zu anderen einen Mindestabstand einhalten können. Das geht in Mehrbettzimmern nicht, das geht nicht, wenn zwanzig oder dreißig Personen einen Waschraum nutzen. Dazu muss die Belegungsdichte vieler Unterkünfte schnell und deutlich verringert werden. Leerstand und Kapazitäten gibt es, oder sie müssen geschaffen werden.
• Wenn Schutz nicht möglich ist, also bei einer infizierten Person alle anderen einer Einrichtung unter Quarantäne kommen, dann müssen auch alle Bewohner*innen getestet werden, um mögliche weitere Infizierte schnell identifizieren und wegverlegen zu können.
• Durch Schwangerschaft, Alter oder Vorerkrankungen besonders gefährdete Personen sind unverzüglich aus den Unterkünften herauszuverlegen. Jetzt, und nicht erst, wenn eine unbekannte Zahl Infizierter in der Unterkunft ist. Hierbei müssen die besonderen Bedarfe der Personen berücksichtigt werden. Die bestehende Anbindung an medizinische oder therapeutische Angebote darf durch eine Umverteilung nicht gefährdet werden.
• Bei der Infektion einer geflüchteten Person müssen der Schutz der Bevölkerung außerhalb der Flüchtlingsunterkunft, der Schutz der infizierten Person und auch aller Bewohner*innen der Flüchtlingsunterkunft gleichermaßen Beachtung und Bedeutung erhalten. Diesen Gleichbehandlungsgrundsatz sehen wir derzeit, zum Beispiel angesichts der Stellungnahmen der Stadt Rosenheim, gefährdet.
• Die Isolation der Geflüchteten durch behördliche Einschränkungen des Kontakts zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen und Geflüchteten muss aufgehoben werden. Unter der Beachtung der allgemeingültigen Abstandsregeln und weiterer Maßnahmen muss die Beratung und Unterstützung Geflüchteter durch Haupt- und Ehrenamtliche wieder ermöglicht werden.
• Die jetzige Situation ist das Ergebnis einer Unterbringungspolitik, die auf Sammelunterkünfte statt auf dezentrale Unterbringungsformen setzt. Die Konsequenzen dieser Politik werden jetzt deutlich. Wir erwarten einen Kurswechsel hin zu einer dezentralen Unterbringungspolitik und erweiterten Möglichkeiten der privaten Wohnsitznahme für Geflüchtete.

Dr. Stephan Dünnwald
Vorstand Sozialgenossenschaft Bellevue di Monaco e.G.

Unterzeichner*innen in alphabetischer Reihenfolge:
——————————————————————————

AGABY Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns
Ärzte der Welt e.V.
Aufstehen gegen Rassismus
Augsburger Flüchtlingsrat
Bamberger Mahnwache Asyl
Bayerischer Flüchtlingsrat
Bellevue di Monaco eG
BMF Gemeinnützige Gesellschaft für die Betreuung unbegleiteter Flüchtlinge mbH
Bündnis 90/Die Grünen, Ingolstadt
Condrobs e.V.
Das Ensemble des Residenztheaters und Andreas Beck
Die Bayerische Ärzteinitiative für Flüchtlingsrechte und der Arbeitskreis Flucht und Asyl der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in Sozialer Verantwortung)
DIE LINKE. Landesverband Bayern
Die Vielen – Bayern
diversity München e.V.
Freie Flüchtlingsstadt Nürnberg
Humanistische Union e.V. Landesverband Bayern
Imedana e.V. Nürnberg
Ingolstädter Erklärung
Interkulturelles Forum e.V.
Karawane München
Koordinationsstelle Flüchtlingsarbeit im Evang.-luth. Dekanat München / DEKANATSstelle, Evangelische Kirche in der REGION MÜNCHEN
Kreisjugendring München-Stadt, Judith Greil
Landesverband BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bayern
Lichterkette e.V.
MUT Bayern
Milla Club
Msgr. Rainer Boeck Diözesanbeauftragter für Flucht, Asyl, Migration und Integration, Erzdiözese München und Freising
München ist bunt e.V.
Münchner Flüchtlingsrat e.V.
Münchner Kammerspiele (Matthias Lilienthal, Christoph Gurk, Tarun Kade)
Oberkirchenrat Michael Martin Mitglied des Landeskirchenrats der Evang.-Luth. Kirche in Bayern Leiter der Abteilung Ökumene und Kirchliches Leben
PAHN – Politische Arbeitsgemeinschaft Helferkreise Region Nürnberg
Rechtshilfe München e.V.
Rosa Asyl, Nürnberg
Rosa Liste
Runder Tisch Kirchenasyl Erlangen (Ingrid Kagermeier)
Stadtratsfraktion DIE.LINKE / die PARTEI
Stadtratsfraktion der SPD Ingolstadt
Sub – Schwules Kommunikations- und Kulturzentrum München e.V.
Trägerkreis EineWeltHaus München e.V
Trägerkreis Junge Flüchtlinge e. V. / SchlaU
Unterstützergruppe Asyl/Migration Dillingen a.d.D.
Würzburger Flüchtlingsrat

nach oben