FRAUEN IN BESTER VERFASSUNG
FRAUEN IN BESTER VERFASSUNG
Das Grundgesetz ist ein Provisorium, das seine Gültigkeit an dem Tag verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vorn deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Angesichts der bevorstehenden Einigung der beiden Teile Deutschlands muß dieser Verfassungsauftrag nun erfüllt, d. h. eine gesamtdeutsche Verfassung geschaffen werden.
In beiden deutschen Staaten wurde trotz ausdrücklicher Verfassungsgrundsätze – die Gleichberechtigung der Frauen bisher nicht verwirklicht. Weder in Regierungen und Parlamenten noch in den Entscheidungspositionen von Wirtschaft, Verwaltung, Rechtsprechung, Wissenschaft, Kultur und Medien, beider Staaten sind Frauen so vertreten, wie es dem Gleichheitsgrundsatz entspräche. Die Arbeit von Frauen wird in vielen Bereichen geringer bewertet, als ihrer Bedeutung gerecht wird.
Ein Staat, der sich der Demokratie verpflichtet, darf nicht länger bei der Proklamation der Gleichberechtigung stehen bleiben. Er muß vielmehr aktiv die Teilnahme der Frauen am gesellschaftlichen Leben fördern und die Hindernisse abbauen, die dem entgegenstehen.
Die Gleichberechtigung muß auch in der Sprache einer neuen gesamtdeutschen Verfassung zum Ausdruck kommen. Sie muß deutlich machen, daß das Volk aus Männern und Frauen besteht.
Dieser Entwurf beschränkt sich bewußt auf Frauenrechte, hat also weder Kinderrechte noch Friedens- oder Ökologiefragen, noch die Rechte anderer diskriminierter Gruppen aufgenommen.
Eine neue gesamtdeutsche Verfassung muß die nachfolgenden Grundrechte für Frauen enthalten:
GRUNDRECHTE
I.
Frauen und Männer sind gleichberechtigt.
Keine Frau darf wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt werden. Der Staat sorgt durch Quotierung, Förderpläne oder andere geeignete Maßnahmen dafür, daß Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu gleichen Teilen vertreten sind.
II.
Jede Frau hat das Recht, zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht.
Der Staat unterstützt die Selbstbestimmung der Frau durch medizinische Hilfen, Aufklärung und Förderung angemessener Verhütung.
III.
Frauen und Männer, die mit Kindern leben, haben Anspruch auf staatlichen Schutz und Förderung sowie gesellschaftliche Rücksichtnahme. Ihnen dürfen keine Nachteile erwachsen. Dies gilt insbesondere bei Ausbildung und Weiterbildung, im Erwerbsleben, bei der Alterssicherung oder bei der Wahrnehmung politischer Aufgaben.
Die staatliche Gemeinschaft stellt für jedes Kind angemessene Betreuungseinrichtungen zur Verfügung.
IV.
Jede Frau hat das Recht auf freie persönliche Entfaltung, ungehinderte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und sexuelle Selbstbestimmung.
Der Staat trägt dafür Sorge, daß die Ausübung dieses Rechts nicht durch männliche Gewalt beeinträchtigt wird.
V.
Die Arbeitsleistung der Frau wird nicht geringer bewertet und entlohnt als die des Mannes.
VI.
Das Recht der freien Meinungsäußerung findet seine Grenzen dort, wo die Würde der Frau berührt ist.
VII.
Eine geschlechtsspezifische Erziehung findet nicht statt.
Öffentliche Erziehung wirkt der Fixierung der Geschlechtsrollen entgegen.
VIII.
Frauen, die wegen ihres Geschlechts politisch verfolgt werden, genießen Asylrecht.
BEGRÜNDUNG
I.
Verfassungsanspruch und -wirklichkeit können nur dann in Einklang gebracht werden, wenn ein rechtliches Instrumentarium für die Durchsetzung der Gleichheitsrechte geschaffen wird. Als konsequentestes und effektivstes Mittel ist die Quotierung anzusehen. Dabei werden Männer so lange benachteiligt bzw. Frauen bevorzugt behandelt, bis das bestehende Ungleichgewicht beseitigt ist. Auch die Bildung eines Bewußtseins für den Gleichberechtigungsanspruch der Frauen und die Unrechtmäßigkeit männlicher Privilegien bedarf staatlicher Förderung.
II.
Sexualität und Schwangerschaft gehören zur ureigensten und privatesten Sphäre der Frau. Hier hat jede staatliche Einmischung zu unterbleiben. Die Entscheidung für oder gegen das Austragen einer Schwangerschaft verdient gleichermaßen Respekt. Will eine Frau trotz schwieriger Lebensumstände ein Kind bekommen, hat sie ein Anrecht auf Unterstützung. Entschließt sie sich zur Abtreibung, muß ihr in vertretbarer Entfernung die erforderliche medizinische Hilfe angeboten werden. Das heißt, eine flächendeckende gesundheitliche Versorgung abtreibungswilliger Frauen muß gewährleistet sein. Die Abtreibungsmethode soll schonend sein, die Begleitumstände dürfen die Würde der Frau nicht verletzen.
Als wirkungsvollste Methode, die Anzahl unerwünschter Schwangerschaften zu minimieren, haben sich fundierte Sexualaufklärung und weitgehende Freigabe von Verhütungsmitteln erwiesen (siehe Beispiel Holland).
III.
In dem Maße, wie Frauen Zugang zur Arbeitswelt t und zum öffentlichen Leben erlangen, sind auch die• Männer für die häusliche Arbeit und die Betreuung der Kinder verantwortlich. Die Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft muß für beide Partner gewährleistet werden. Hier besteht eine unmittelbare Verknüpfung der Rechte und Pflichten von Frauen und Männern. Vorübergehende Teilzeitbeschäftigung bei vollem Lohnausgleich kann realisiert, wenn Kindererziehung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen wird, wenn analog zur Altersversorgung, Arbeitslosenversicherung und gesetzlichen Krankenkasse durch die Solidargemeinschaft Beiträge gezahlt werden, die im Bedarfsfall zur Verfügung stehen (Elternversicherung siehe Beispiel Schweden).
Bezüglich der vor- und außerschulischen Kinderbetreuung ist die Bundesrepublik ein unterentwickeltes Land. Ungünstige Öffnungszeiten und fehlende Plätze behindern insbesondere die Mütter bei der Ausübung eines Berufes. Aber auch vielen Kindern wird die Chance von Kommunikationsmöglichkeiten außerhalb der Kleinfamilie genommen. Hier kann nur ein Rechtsanspruch auf einen Krippen-, Kindergarten- oder Hortplatz Abhilfe schaffen.
überfällig ist auch die Einrichtung von Ganztagsschulen.
IV.
Zum Schutze von Frauen wurde bereits eine Vielzahl von Modellen entworfen und erprobt: Frauennachttaxi, bewachte Frauenparkplätze „Garderobeparken “ ….. Der häuslichen Gewalt können sich Frauen durch Flucht ins Frauenhaus entziehen. Die Anzahl all dieser Einrichtungen muß dem tatsächlichen Bedarf angepaßt werden.
Verheirateten Frauen muß endlich der gleiche rechtliche Schutz zugestanden werden wie unverheirateten. Vergewaltigung in der Ehe darf nicht mehr anders bewertet werden als außerhalb, muß also unter Strafe gestellt werden. Ein Zweiklassenstrafrecht für Verheiratete und Nichtverheiratete ist unerträglich. Es resultiert aus der antiquierten Vorstellung eines Besitzrechts des Mannes an der Frau.
V.
Frauen sind in stärkerem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen als Männer. Manche müssen eine Teilzeitbeschäftigung annehmen, obwohl sie eine Vollzeitbeschäftigung wünschen. Oft sind sie überqualifiziert für ihre Tätigkeit. Sie verdienen im Durchschnitt 25 % weniger für die gleiche Arbeitsleistung als Männer. Von diesen Ergebnissen einer EG-weiten Studie (1990) nimmt sich die Bundesrepublik nicht im positiven Sinne aus.
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist zwar eine gewerkschaftliche Parole, kann aber nur auf dem gesetzgeberischen Weg durchgesetzt werden. Berufliche und „ehrenamtliche“ Arbeit von Frauen bedarf insgesamt einer gesellschaftlichen Aufwertung, die sich auch in der Entlohnung zeigen muß.
VI.
Im geltenden ‚Art. 5 (1) GG ist das Recht der freien Meinungsäußerung und Informationsfreiheit definiert und festgestellt, daß eine Zensur nicht stattfindet. Gleichwohl ist dieses Recht nicht grenzenlos. Nach Art. 5(2) GG findet es seine Schranken u. a. in dem Recht der persönlichen Ehre.
Diese bisherige“ Regelung hat nicht ausgereicht, sexistische Publikationen zu verhindern. Die Würde der Frau ist daher in die die freie Meinungsäußerung begrenzenden Rechte mit aufzunehmen.
VII.
Gemischte Gruppen und gemeinsamer Unterricht sind die Grundlage der Koedukation. Zur Überwindung der fixierten Geschlechtsrollen kann vorübergehend von diesem Prinzip abgewichen werden, also etwa Handarbeistsunterricht für Jungen, Computerkurse für Mädchen angeboten werden.
Von der Krippe bis zur Hochschule haben Jungen und Mädchen dasselbe Recht auf Zuwendung und Förderung.
Schulbücher und Lehrpläne sind so zu reformieren, daß sie Frauen nicht mehr in überkommenen Rollenklischees darstellen. Die Bedeutung von Frauen als Künstlerinnen, Politikerinnen usw. muß im Unterricht angemessen gewürdigt werden.
VIII.
Die Rechtsprechung mancher Länder benachteiligt Frauen aufgrund ihres Geschlechts. So werden Verstöße gegen bestimmte, zum Teil religiös motivierte Rollenerwartungen rigoros geahndet. In einigen orientalischen Ländern wird die Untreue der Ehefrau mit dem Tode bestraft. Auch andere Normverstöße wie z.B. Trennung oder Scheidung können für Frauen eine tödliche Bedrohung durch die Familie des Mannes nach sich ziehen. Solche und ähnliche Fluchtgründe müssen ebenso anerkannt werden wie die Verfolgung wegen unmittelbar politischer Betätigung.
Arbeitspapier aufgrund einer Initiative von: Heide Hering, Susanne von Paczensky, Renate Sadrozinski.
Zusammengestellt von: Gunda Diercks-Elsner, Heide Hering, Elisabeth Kilali.
München, den 8. Juli 1990