Stellungnahme der Humanistischen Union zum Ausbau der Kernkrafttechnologie
Die Aspekte der öffentlichen Auseinandersetzungen um den Bau von Kernkraftwerken sind vielfältig. Da sie unvergleichbar weitreichende Grundsatzfragen berühren, liegt ihre Emotionalisierung, die die Unterscheidung zwischen echten und vorgeschobenen Argumenten erschwert, nahe. Die Humanistische Union, die sich als Bürgerrechtsorganisation versteht, legt im Folgenden eine Stellungnahme zu den wichtigsten, die Nutzung von Kernkraftenergie betreffenden, Fragen vor. Sie hofft, mit ihr zur Versachlichung der Diskussion beizutragen.
Die unter den Punkten 1-6 aufgeführten Bedenken arbeitete ein Professor für Kernphysik für den Bundesvorstand der Humanistischen Union aus, der er als Mitglied angehört.
1) Frage der Betriebssicherheit von Reaktoren.
Es ist unbestreitbar, daß Kernreaktoren keine Atombomben darstellen, die absichtlich oder unabsichtlich zur Explosion gebracht werden könnten. Es ist ebenfalls unbestritten, daß die bisher bekannt gewordenen Betriebsunfälle von einer Natur sind, wie sie in nichtnuklearen Anlagen vergleichbarer Größe wesentlich häufiger vorkommen, ohne Aufsehen zu erregen. Außerdem scheinen zusätzliche Anforderungen an die Betriebssicherheit technisch erfüllbar. Allerdings würden sie die bisherigen Rentabilitätsrechnungen wesentlich belasten. Dabei darf man aber nicht unterschätzen, daß hergebrachte Kriterien für die Betriebssicherheit nicht ausreichen können, weil hier die Unfallfolgen eine völlig andere Dimension erreichen würden. Während bei nichtnuklearen Katastrophen die Schäden in relativ kurzer Zeit behoben werden können, ein hinreichend kleines Katastrophenrisiko also möglicherweise zu tolerieren wäre, besteht bei nuklearen Unfällen die Aussicht, daß ganze Landstriche auf wenigstens 50 Jahre unbewohnbar werden. – Der Vorfall von Seveso wäre demgegenüber eine harmlose Bagatelle. – Aber auch kleinere Unfälle ohne nennenswerte materielle Schädigungen bergen in sich das Risiko einer nicht zu unterschätzenden psychologischen Wirkung in der Öffentlichkeit, die durch Geheimhaltungsversuche seitens der Verantwortlichen noch verschärft wird. Dieser Situation muß auch für die Zukunft Rechnung getragen werden, da sie sich voraussichtlich nicht ändern wird.
Es ist also zu fordern: daß die Betriebssicherheitsfragen auf einer technologischen Ebene diskutiert werden, die weit über den Anforderungen an nichtnukleare Industriebetriebe liegt.
2) Frage der Strahlenbelastung durch Reaktoren.
Obwohl die Abschätzung der radioaktiven Belastung der Umwelt nicht unproblematisch ist, scheint sicher zu sein, daß die zusätzliche Belastung durch Kernreaktoren im bisher projektierten Ausmaß etwa 2 % der Belastung durch akzeptierte Technologien (z. B. Röntgendiagnostik) darstellen würde, die wiederum ihrerseits etwa 50 % der natürlichen Belastung (z. B. kosmische Strahlung) von 110 mrem/Jahr erreicht. Die Beurteilung der Gefährlichkeit dieser zusätzlichen radioaktiven Belastung ist nicht ohne weiteres möglich. Man kann im Extremfall die Meinung vertreten, daß jede noch so geringe Erhöhung des Strahlenniveaus möglicherweise gefährliche Konsequenzen haben kann. Aber da z. B. die natürliche Strahlenbelastung keineswegs konstant ist, würde daraus folgen, daß die ganze Menschheit auch ohne Kernkraftwerke ständig am Rande der Katastrophe lebt. Der Hinweis auf die zusätzliche Strahlenbelastung ist daher als Gegenargument wenig überzeugend.
3) Umweltschutzfragen.
a) Radioaktivitätslagerung.
Dieses Problem scheint wissenschaftlich keineswegs so klar beantwortet, wie in der aktuellen Diskussion oft behauptet wird (z. B. ist das Verhalten von eingeglasten hochaktiven Substanzen über Jahrhunderte hinweg heute selbstverständlich noch unbekannt). Sicherlich ist zuzugeben, daß bei einem normalen Betrieb der Deponien wahrscheinlich keine unmittelbaren Gefahren zu befürchten sind, auch nicht für die angrenzenden Bewohner des Gebiets. Die Bedenken stützen sich in diesem Fall auf die Unmöglichkeit, die langfristigen, über Jahrtausende sich hinziehenden Entwicklungen heute abzuschätzen, da hierzu niemandes Kenntnisse und Vorstellungsvermögen ausreichen. Hier handelt es sich damit um ein Risiko-Arsenal für die uns nachfolgenden Generationen, das nicht zu verantworten ist. Jede akzeptable Lösung des Energieproblems muß ohne eine solche Hypothek auskommen.
b) Sicherheitsrisiken.
Als Potential für kriminelle Akte aller Art wären die Deponien sowie der Antransport des radioaktiven Materials über dem Landweg eine ständige Bedrohung. Jede große Aufbereitungsanlage, die zur Abscheidung des noch verwertbaren Brennstoffs den Deponien vorgelagert sein soll, würde im Normalbetrieb etwa 20 t Plutonium beherbergen. Das entspricht der Grundsubstanz für etwa 1000 Atombomben vom Hiroshima-Typ. Der Bau, auch ineffizienter Kernsprengsätze, mit entsprechend primitiver Technologie, würde für jedermann möglich sein. Auch wenn er sich in den Besitz nur eines Bruchteils dieser Menge bringt (notfalls über längere Frist in kleinen Portionen), deren Fehlen zunächst nicht bemerkt würde.
c) Wärmebelastung.
Dieses Problem ist sehr allgemein und betrifft nicht allein die Kernspaltungsreaktoren. Eine ungehinderte Zunahme der Energieproduktion ist höchstwahrscheinlich gefährlich, da sich das meteorologische Gesamtsystem der Erdoberfläche vermutlich in einem labilen Gleichgewicht befindet. Die Kernkraft als Dauerlösung über Jahrhunderte hinweg ist daher nicht vertretbar und wird auch von ihren Verteidigern in der Regel nicht angestrebt. Derselbe Vorbehalt gilt jedoch auch für Fusionsreaktoren, die als Dauerlösung angezielt werden und ebenfalls ein Vielfaches der produzierten Nutzenergie als Abwärme erzeugen würden. Es gilt bereits heute als unbestritten, daß dauerhafte Methoden der Energieversorgung keine wesentlich weiter zunehmende Abfallwärme produzieren dürfen, die an die Umwelt abgegeben wird.
4) Alternativlösungen.
a) Energieersparnis.
Da eine Erzeugung verwertbarer Energie ohne die gleichzeitige Produktion von Abfallwärme nach den Gesetzen der Thermodynamik nicht möglich ist, folgt aus der Schlußbemerkung des letzten Absatzes die unabweisbare Forderung nach praktikableren Methoden der Wachstumsbeschränkung im Energieverbrauch. Die jetzigen Wachstumsprognosen lauten auf 4-5 % pro Jahr bis zum Jahre 2000. Dabei kann weder die Entwicklung des Energiebewußtseins, noch die Wirkung eventueller energiepolitischer Steuerungsmaßnahmen abgeschätzt werden. Dennoch sind gerade hier noch sehr naheliegende Sparmöglichkeiten ungenutzt – z. B. der allmähliche Abbau des Anreizsystems der Preisnachlässe für Energiegroßverbraucher. Darüber hinaus sollten alle Versuche unterstützt werden, die das Gesamtgebiet unserer Technologie (Hausbau, industrielle Fertigungsmethoden, Verkehr) systematisch auf weitere brachliegende Möglichkeiten zur Energieersparnis überprüfen. Eine großangelegte weitere Zunahme der Forschungsförderung auf diesem Gebiet ist unumgänglich. – Die Voraussagen der Energielücke bei einem Stop des Kernkraftausbaus liegen bei etwa 10 % des Bedarfs in den 80er Jahren. Energiebeträge von dieser Größenordnung können durch relativ unproblematische Maßnahmen durchaus eingespart werden. Auf die Dauer werden allerdings auch sie völlig unzureichend sein. Alle Argumente gegen eine Wachstumsbeschränkung des Energieverbrauchs stützen sich auf die gegenwärtigen Vorstellungen von den Wirtschaftszusammenhängen. Abgesehen von der Tatsache, daß einige Behauptungen widerlegbar sind (z. B. sichert zunehmender Energieverbrauch nicht die Arbeitsplätze, sondern vernichtet sie zum Teil durch Automationsförderung) ist es höchst gefährlich, die Denkansätze durch herkömmliche Theorien in einer Frage blockieren zu lassen: deren Bedeutung weit über unsere gegenwärtige ökonomische wie gesellschaftliche Situation hinausreicht.
b) Ersatzenergiequellen.
Zur bisher das Feld beherrschenden Energieerzeugung durch Kernkraft bzw. Verheizen fossiler Brennstoffe wird bereits eine Reihe Alternativen (Erdwärme, Sonnenenergie, Windenergie etc.) diskutiert. Die Erforschung und Entwicklung dieser Alternativen hat erst in jüngster Zeit einen nennenswerten Aufschwung genommen und könnte durch einen Bruchteil der für den Ausbau der Kernenergie vorhergesehenen Investitionsmittel entscheidend gefördert werden. Dabei müßte vermieden werden, nur nach einer einzigen Ersatzquelle von ausreichender Ergiebigkeit für die zukünftige Energieversorgung zu suchen. Es wäre sehr wohl möglich, den Energiebedarf der Zukunft aus einer Vielzahl verschiedener, den einzelnen Problemen weitgehend angepaßter Energiequellen zu decken. Bis diese Alternativen im großen Rahmen eingesetzt werden können, werden voraussichtlich Jahrzehnte vergehen. Doch während dieser Zeit sind ohnehin keine Energieprobleme zu erwarten, die nur von den jetzt geplanten Kernkraftwerken gelöst werden könnten.
c) Verbesserung der herkömmlichen Energieerzeugung.
Alle Schätzungen zeigen, daß dieser Zeitraum bis etwa zum Jahre 2000 mit den vorhandenen fossilen Brennstoffvorräten (Kohle, Erdgas, Erdöl) durch den Bau weiterer konventioneller Kraftwerke überbrückt werden kann. Die ebenfalls ernst zu nehmenden Verschmutzungsprobleme herkömmlicher Kraftwerke müßten und könnten durch Verbesserung der Technologie (Abgasfilter, Luftkühlung etc.) in erträglichem Rahmen gehalten werden. Auch hier würde nur ein Bruchteil der vorgesehenen Kernenergieinvestitionen schon ausreichen. Die sich dadurch ergebende Verteuerung der Energieproduktion aus konventionellen Kraftwerken ist nur ein Ausdruck ihres echten Wertes, der der Öffentlichkeit bewußt gemacht werden müßte. Zweifellos würde das den Trend zum sparsamen Energieverbrauch verstärken.
5) Rentabilitätsfragen.
Die gesamten Sicherheitsauflagen, die eine tolerable Kernenergieerzeugung großen Stils zu erfüllen hätte, sind noch nicht absehbar, insbesondere nicht im Hinblick auf das Deponieproblem. Alle existierenden Rentabilitätsrechnungen müssen also unvollständig sein – zudem wenn man fordert, daß die herkömmlichen Nutzen-Kosten-Definitionen durch Hinzunahme der bisher der Allgemeinheit überlassenen Folgekosten erweitert werden. Darüber hinaus ist die Hoffnung, durch einen Ausbau der Kernspaltungsreaktoren etwaigen neuen Pressionen der Energierohstofflieferanten entgehen zu können, trügerisch. Uran ist keineswegs im Überfluss vorhanden und zum größten Teil im Besitz von heutigen Entwicklungsländern. Die Überlegung schließlich, daß man es sich nicht leisten könne, bei einer Umkehrung der bisherigen Entwicklung die inzwischen investierten Milliardenbeträge zu verlieren, ist schon durch die Heranziehung von Beispielen aus der Militärtechnologie zu entkräften. Dort ist man an das Ziehen solcher verlustreichen Schlußstriche gewöhnt, ohne daß der durch die betreffende Fehlentwicklung entstandene volkswirtschaftliche Schaden Anlaß zu erregten Auseinandersetzungen geben würde.
6) Der politische Charakter der gegenwärtigen Auseinandersetzung.
Die zur Entscheidung stehenden Probleme zur Nutzung der Kernkraft sind über das bisher Gewohnte und Bekannte hinaus tief- und weitreichend. Zusätzlich zu den in den öffentlichen Auseinandersetzungen im Vordergrund stehenden ökologischen Gefährdungen und ökonomischen wie technologischen Aspekten haben die Ereignisse um den „Fall Traube“ eine weitere Problematik von elementarer Bedeutung ins Bewußtsein gerückt: die Gefährdung der Grundrechte des Bürgers durch den Sicherheitsanspruch einer Gesellschaft, die von Atomenergie abhängt. Obwohl die Zahl der betriebenen Reaktoren und damit die Gefahrenmomente bisher noch relativ gering sind, hat die Reaktion der Staatsschutzbehörden in einem Fall, der sich als fiktive Gefährdung erwies, bereits alle Befürchtungen übertroffen. Im Gegensatz zu der Beteuerung, daß die Sicherheit von Atomkraftwerken gewährleistet sei, hat man übereifrig in einem sogenannten „übergesetzlichen Notstand“ reagiert, der den Verdacht bestätigte: daß sich die Staatsorgane schon heute auf einen ständig relevanten Alarmzustand eingestellt haben, der die Außerkraftsetzung verfassungsmäßiger Bürgerrechte gewissermaßen als Dauerauftrag rechtfertigt. Sollten die Ausbaupläne für die Atomenergie Wirklichkeit werden, so würden der in der Bundesrepublik ohnehin prinzipiellen Bereitschaft zu weitgehenden Polizei- und Staatsschutzkontrollen weitere unüberprüfbare Anlässe in die Hand gegeben und ein Mechanismus in Gang gesetzt, der unantastbare Verfassungsgarantien für den einzelnen Bürger zur Farce pervertiert – unter Hinweis auf das Schutzbedürfnis der Gesellschaft. Selbst wenn sich einige der oben aufgeführten technischen Bedenken als zu pessimistisch erweisen sollten, die mit dem Ausbau der Atomkraftwerke verbundenen politischen Befürchtungen und Konsequenzen werden mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht entschärft werden können. In einer von Atomenergie abhängigen Gesellschaft ist ein Überhandnehmen von in Grauzonen agierenden staatlichen und privaten Polizei- und Aufklärungsorganisationen zu erwarten, das allen liberalen Zielen und Rechten einer Gesellschaft ein Ende setzt.
Durch die Ablehnung weiterer Atomkraftpläne ein solches Ende zu verhindern, halten wir daher für die schwerwiegendste Herausforderung dieses Jahrhunderts an alle politisch bewußten Bewohner dieses Landes.
Humanistische Union
Dr. Charlotte Maack
Vorsitzende