Die Schere im Kopf
Datum: | Samstag, 01. Juli 1978 |
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Diese Veranstaltung, die Selbstzensur in verschiedenen Bereichen zum Thema hatte, war vom AK „Restaurative Tendenzen in der Bundesrepublik“ vorbereitet und durchgeführt worden. In verschiedenen Referaten, teils von HU-Mitgliedern gehalten, wurde versucht, diese Form der Zensur in den Bereichen Justiz, Psychologie, Medien, Schule und Theater aufzuzeigen und durch persönliche Erfahrungen zu verdeutlichen. Den Abschluss bildeten Thesen, wie der Selbstzensur zu begegnen sei, sowie eine – leider zu kurz ausgefallene – Diskussion.
Den Zusammenhang Zensur – Selbstzensur im juristischen Bereich führte der Rechtsanwalt Jürgen Arnold aus. Der § 90a StGB, der denjenigen unter Strafe stellt, der „die Bundesrepublik Deutschland öffentlich in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften beschimpft oder böswillig verächtlich macht“, bewirkt, dass zwar keine Zensur im Sinne einer Vorzensur ausgeübt wird, im Nachhinein aber ähnliches entsteht wie bei der „klassischen“ Zensur: An die Stelle der Zensur tritt der sich selbst zensierende Staatsbürger, aus Angst, nach dem erwähnten Paragraphen belangt zu werden. Dies verdeutlichte Arnold auch an Beispielen einiger Kollegen.
Neben diesem Referat äußerte sich die Psychologin Dr. Sieglinde Tömmel, seit kurzem HU-Mitglied, zur Psychologie der Angst und legte dar, dass hier ein positiver Mechanismus zur Vermeidung objektiv vorhandener Gefahrenquellen umschlagen kann in die totale Vermeidung bloß geglaubter Gefahren – unabhängig von deren realer Existenz. Der erste Schritt zum Abbau eines in diesem Sinne angstgeprägten Verhaltens ist die Veröffentlichung der „Ängste vieler“ und deren radikale Analyse, um der in der Isolation des einzelnen sich verstärkenden Ohnmacht und Verunsicherung entgegenzutreten.
Wie der Journalist Winfried Parkinson ausführte, kann die Selbstzensur in den Massenmedien – verstanden als mangelhafte Informationsweitergabe ans Publikum – die verschiedensten Ursachen haben: Existenzangst der freien Mitarbeiter aufgrund ihrer bekannten unzureichenden sozialen Sicherung; Isolation vom Publikum, das auch in den Rundfunkräten keine oder nur ungenügende Vertretung findet; die Personalpolitik; strukturelle Schwierigkeiten wie mangelnde mediengerechte Ausbildung der Redakteure, Zustandekommen von Informationen häufig aus zweiter Hand, Zeitdruck, Hinauszögern von Beiträgen bis zur In-Aktualität, notwendige Schnitte (z.B. Komprimierung von langatmigen Interviews).
Anders als Parkinson, der den Zusammenhang von Angst vor möglicher Zensur und ihrer „freiwilligen“ Form als Selbstzensur nur peripher behandelte, ging die Regieassistentin Petra-Maria Einsporn, HU, für den Theaterbereich auf die hierarchische Struktur speziell der subventionierten und institutionalisierten Theater in der Bundesrepublik ein und führte die Streichung von Subventionen, Kündigungsdrohungen gegen Intendanten und Angriffe von Presse, Publikum und politischen Parteien als Mechanismen indirekter Zensur an. Hierfür bot die in der letzten Zeit erfolgte Absetzungswelle von Theaterstücken vor allem im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung den Ausgangspunkt, wobei bestimmte Fälle (z.B. die Absetzung der „Gerechten“ von Camus in Oldenburg) eindeutig als direkte Zensur ausgewiesen werden konnten.
Für den Bereich der Schule gab der Lehrer Joachim Vieregge einen Erfahrungsbericht; die bayerische „Allgemeine Schulordnung“, die politische Haltung von Direktoren, Elternbeiräten und Schülern, die in regelmäßigen Abständen erstellte Beurteilung der angestellten und in Bayern auch der beamteten Lehrer durch die Direktoren, die sich disziplinierend auswirken können, die „unverbindlichen“ Korrekturhinweise des bayerischen Kultusministeriums – all dies kann sich als Einschüchterung auf den einzelnen Lehrer auswirken.
Im Anschluss an diese Referate ging Dr. Rolf Eckart, GEW- und HU-Mitglied, auf Möglichkeiten ein, der Selbstzensur zu begegnen; hier einige seiner Thesen:
- Kritische Beschreibung der Lage statt autosuggestiver, lähmender Schwarzmalerei; kein Gleichsetzen von Weimar und Bonn, kein Übertreiben der Faschismusgefahr, kein Suggerieren von Unaufhaltsamkeit und Zwangsläufigkeit („Tendenzwende“, „Rechtsentwicklung“), Kassandrarufe schrecken nicht den Gegner, eher uns selbst.
- Stärkung des individuellen Widerstandspotentials und der Kommunikationsfähigkeit durch psychologische Analyse, gruppendynamische Übungen und, wenn erforderlich, durch Psychotherapie oder Verhaltenstherapie; dabei aber sowohl die Gefahr der Anpassungstherapie sehen als auch die Gefahr einer Überforderung der Psychologie (und Pädagogik): mit Zivilcourage gegen Multis? mit persönlichem Mut gegen die Neutronenbombe?
- Gegenöffentlichkeit herstellen und stärken: oppositionelle Zeitschriften nicht nur lesen, sondern abonnieren! Es müssen nicht alle sein, die der Innenminister durch den Bundesgrenzschutz in unserem Reisegepäck erschnüffeln lässt. Aber warum nicht, wenn es finanziell möglich ist, zwei Dutzend Zeitschriften abonnieren? Manche davon vielleicht mehrfach, zum Verschenken? Von einer sparsamen Linken können die oppositionellen Verlage nicht leben.
- Mehr als nur „seinen“ Verein stärken: wir können nicht überall aktiv mitarbeiten, aber wir können mehr als einen Verein finanziell durch Mitgliedsbeiträge und Spenden fördern. Wer die Opposition gegen die Zerstörung unserer Demokratie wirksam unterstützen will, muss ganz konkret auch an Papier und Schreibmaschine denken, an die Kosten für Telefon, Strom und Miete etc.
- Aktionsgemeinschaften und Bündnisse müssen immer wieder von neuem angestrebt und erprobt werden: Bürgerrechtsvereinigungen wie die Humanistische Union, in der sich Christen, Liberale und Sozialisten vor nunmehr sechzehn Jahren zur Verteidigung unserer Grundrechte zusammengeschlossen haben, brauchen die Verbindung zur Arbeiterbewegung, zu den Gewerkschaften, wenn sie nicht wirkungslos bleiben wollen. Intelligenz und Arbeiterbewegung müssen zusammengehen, wenn wir mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit wollen.