Laudatio auf Wunibald Heigl

Copyright Humanistische Union

Prof. Dr. Kurt Singer

„Freiheit und Unfreiheit von Lehrerinnen und Lehrern. Aufrechter Gang und obrigkeitlicher Zwang in einer Gesellschaft, die sich demokratisch nennt.“

Aufrechter Gang in freiheitlicher Schulatmosphäre – Geduckte Haltung unter Druck „von oben“

Aufrechter Gang. Vor einigen Jahren besuchte eine Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern Schulen in Dänemark. Sie berichteten nach ihrer Rückkehr über ihre Beobachtungen:
Über das freiheitliche Klima, die kollegiale Zusammenarbeit, über pädagogische Selbstverantwortung der Lehrer, über die das einzelne Kind unterstützende Arbeit in Klassen mit fünfzehn bis zwanzig Schülern und die großzügige Lehrerweiterbildung. Eine der Berichterstatterinnen sagte: „In den dänischen Schulen gehen die Lehrer ganz anders als bei uns.“ – Ich fragte zurück: „Wie meinen Sie das: Die Lehrer gehen in Dänemark anders?“ – „Ja, wie die sich im Schulhaus bewegen, das ist selbstverständlicher als in unseren Schulhäusern, irgendwie freier, da ist alles unverkrampft, die gehen aufrechter.“

Aufrechter. Es gibt Bedingungen im Alltag, am Arbeitsplatz, in der Schule, die machen Eigen-Bewegung möglich. Da kann man, wie die Lehrerin meinte, „anders gehen“, seinen „aufrechten Gang“ be-wahren.

In unseren Schulen ist das nicht selbstverständlich. Hier findet man verbreitet die geduckte Haltung statt des aufrechten Ganges; denn Lehrerinnen und Lehrer werden staatlich beaufsichtigt. Da widerfährt es nicht nur dem Oberstudienrat Wunibald Heigl – aber dem besonders -, daß ein Vorgesetzter ins Klassenzimmer eindringt, ohne eingeladen zu sein; ohne daß der fragt, ob sein „Besuch“ erwünscht ist, ob er vielleicht störe. Nein, der ungebetene Gast muß „nach dem Rechten schauen“ – oder nach dem Schlechten suchen?

Was stellen Lehrerinnen und Lehrer an, daß man sie durch eine Regel-Beurteilung oder eine Regel-Verurteilung bis ins hohe Dienstalter verdächtigt? Diese „Schulbesuche“, wie das verfäl-schende Wort für Kontrolle heißt, finden unangemeldet statt. Bei welchem Verbrechen sollen die Überrumpelten auf frischer Tat ertappt werden? – Und was steckt in den Lehrerinnen und Lehrern, daß sie dem unerwünschten Eindringling nicht den Zutritt ver-wehren? – Von solcher Gegenwehr habe ich nur einige Male erfahren und da hat sie überraschend gewirkt.

Natürlich gibt es Vorgesetzte, die haben Mut zur Scham. Sie weigern sich, taktlos Kolleginnen und Kollegen zu überfallen; denn sie wollen keine Duckmäuser heranziehen. Deshalb vereinbaren sie mit den Lehrern einen Schulbesuchstermin. Das sind Schulräte mit aufrechtem Gang. Nur wenn sich Lehrerinnen und Lehrer und ihre Vorgesetzten aus der Gängelung befreien und Selbstverantwortung übernehmen, wird die Schule demokratisch.

Bürokratischer Unterordnungszwang hemmt den schulpädagogischen Fortschritt – Ermutigung der Schüler zu demokratischem Handeln

Aus meiner praktischen Arbeit mit Lehrer-Balint-Gruppen und Lehrer-Selbsterfahrungsgruppen, aus der Lehrerberatung und Supervision, aus Seminaren mit Schulkollegien, aus meiner eigenen Lehrererfahrung, meiner wissenschaftlichen Arbeit und aus meiner psychotherapeutischen Tätigkeit als Psychoanalytiker weiß ich, wieviel seelische Not aus der angst-machenden Schul-Aufsicht erwächst: aus der Angst, die Lehrerinnen und Lehrer gemacht wird und aus den Autoritätsängsten, die früh in sie hineingelegt wurden. Diese Not wird oft durch Schulratswitze und Visitationsanekdoten weggelacht; denn sie wäre eigentlich zum Weinen.

Nichts hemmt den pädagogischen Fortschritt in der Schule mehr, als die undemokratischen Verhältnisse, die in ihr herrschen: die Unterordnung, bürokratische Regelung, Zensur und machtbehauptendes Vorgesetztenverhalten. Dem entspricht auf der anderen Seite die unvorstellbare Gehorsamsbereitschaft von Lehrerinnen und Lehrern. In Autoritätshörigkeit opfern sie ihre pädagogische Freiheit und passen sich an. Sie flüchten in die schutzverheißende Kind-Rolle.

Nicht so Wunibald Heigl. Er ist erfüllt von demokratischer Überzeugung und pädagogischem Einsatz. Vor vierzehn Jahren gründete er am Werner-von-Siemens-Gymnasium zusammen mit der Schülermitverwaltung die Arbeitsgemeinschaft für Politische Bildung. Er wollte an der Schule ein Forum für politische Diskussionen schaffen. Lehrer, Schülerinnen und Schüler trafen sich wöchentlich in ihrer Freizeit. Sie erarbeiteten politische Informationen für sich und die Mitschüler, verfaßten Flugblätter, organisierten Ausstellungen, veranstalteten Podiumsdiskussionen. Sie führten Kultur- und Informationstage zu aktuellen politischen Themen durch wie: Frieden und Abrüstung, Neue Medien, Umweltschutz, Waldsterben, Rassismus, Apartheid, Atomenergie, Rechtsextremismus, Gewalt. – Themen, die heute überlebensnotwendig sind, besonders für Kinder.

Herr Heigl unterstützt Jugendliche darin, politisch zu denken und sich öffentlich einzumischen. Das drückt sich in der Arbeit für Ausländerfreundlichkeit aus. Dabei begnügt er sich nicht mit Appellen, sondern erarbeitet mit den Jugendlichen Hintergründe und Argumente: Wie Ausländer ins Land geholt wurden und das Wirtschaftswunder ermöglichten, wie sie leben und arbeiten, wie die Einwanderungs- und Flüchtlingssituation in anderen Ländern ist, was das Asylrecht bedeutet und wie sich die Änderung des „Grundrechts auf Asyl“ auswirkt. Es entstand eine Ausstellung, die an vielen Orten gezeigt wurde: „Das Recht, fremd zu sein – Ausländer in Deutschland.“

Die Jugendlichen politikbereit und politikfähig machen

Die politische Bildungsarbeit von Herrn Heigl überwindet offensichtlich die Politikverdrossenheit Jugendlicher.

–   Über hundert Schüler und Lehrer erarbeiteten eine Friedensaus-
    stellung (die ihnen Schwierigkeiten mit der Schulleitung
    einbrachte).

–   Mit großem persönlichen Einsatz sammelten die Jugendlichen
    Erkenntnisse über die Flick-Affäre und bauten dazu
    Informationsstände auf (der damalige Schulleiter bezeichnete
    das als „Beispiel negativer erzieherischer Beeinflussung“,
    als ob dieser negative Einfluß nicht viel mehr von der Affäre
    ausginge).

–   Schülerinnen und Schüler befaßten sich mit ökologischen
    Alternativen zur zerstörerischen Atomkraft und mischten sich
    damit ein.

Nicht immer waren es so viele, die sich beteiligten: manchmal zwanzig, dreißig oder fünfzig Jugendliche. Aber darin zeigt sich, daß politisches Interesse und Handlungsbereitschaft angeregt wurden. Das wäre dringend erforderlich; denn die letzte Studie des Jugendwerks der Deutschen Shell zeigt auf: Die Gleichgültigkeit der Jugendlichen hat zugenommen. Wie bei ihren erwachsenen „Vorbildern“ gibt es eine „allgemeine Politikmüdigkeit“. Also ist die Arbeit Wunibald Heigls ganz im Sinne des demokratischen Erziehungsauftrages: Kinder und Jugendliche zu politikfähigen, politikbereiten und veranwortungsbewußten Bürgen zu machen. Aber das schließt die mündige Kritik an den Herrschenden ein und die mißfällt denen. Deshalb die Mahnung, Lehrerinnen und Lehrer sollten nicht „politisch“ werden?

Ich möchte in meiner Rede Lehrerinnen und Lehrer einschließen, die sich ebenfalls für Politische Bildung und die Humanisierung der Schule einsetzen – und denen vielfach die gleiche Verachtung und Verfolgung widerfährt wie dem Preisträger. – Die Schüler einer siebten Klasse bearbeiten beispielsweise mit ihrer Lehrerin das Abfallproblem. Sie sehen dabei ein: Wenn wir nicht am Müll ersticken wollen, müssen wir weniger Abfall produzieren. Die Jugendlichen erkennen die gestörte Intelligenzleistung, mit der Regierende diese Logik außer Kraft setzen. Die wollen den Müllberg nicht dadurch verkleinern, daß sie Müll vermeiden, sondern sie setzen auf den Abfall ganz einfach einen „grünen Punkt“, der noch nicht einmal grün und auch kein Punkt ist. Schon ist die Lehrerin politisch geworden – und das zu Recht: Es geht darum, den Kindern dabei zu helfen, die Welt so zu verändern, daß auch sie noch darin leben können – und das heißt: die Heranwachsenden politikbereit zu machen.

Politik gehört in die Schule

Da ist zum Beispiel eine Lehrerin, die bearbeitete das Ozon-Problem als ganzheitliches Unterrichtsprojekt. Beim Thema Boden-Ozon tauchte die Frage auf: Warum dürfen sich Kinder, Alte und Kranke an den schönsten Tagen des Sommers nicht im Freien bewegen? Die Schüler erarbeiteten im Verlauf des Projektes einen umfassenden Katalog, was geschehen müßte: von individueller Rücksichtnahme bis zu einer vernünftigen am Menschen orientierten Verkehrspolitik. Sie sprachen auch darüber, daß Politiker Verantwortung den Kindern gegenüber haben müßten. – Oder ist etwa den Politikern Autofahren wichtiger als Atmen? Sie diskutierten die herausfordernde Frage: Soll man die Kinder in die Garage sperren, damit Autos draußen spielen können?

Prompt erscheint ein Vater beim Schulleiter: Die Lehrerin wäre zu politisch. Er verwechselte Partei- und Machtpolitik mit Politik. In ihr geht es darum, daß Menschen gesellschaftliche Verhältnisse gemeinsam verändern. Zu diesem politischen Handeln will die Lehrerin die Jugendlichen befähigen. Sie regt die Heranwachsenden dazu an, sich für öffentliche Probleme zu interessieren, wachsam zu fragen und verantwortlich mitzugestalten. – Alle Aufgaben, die heute zur Rettung der bedrohten Welt anstehen, sind nur durch politische Prozesse zu lösen. Deshalb braucht Lernen in einer bedrohten Welt eine ökologische Bildung, die zugleich politische Bildung ist.

Politik gehört in die Schule. – Nur so können Jugendliche Politik lernen: als grundlegende Erkenntnis über Politik, als Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Problemen und als politische Erfahrung durch Mitsprache und echte Mitbestimmung in der Schule. Öffentliche Verantwortung ist nur erlernbar durch öffentliche Verantwortung der Schüler – in Schulleben und Unterricht. – Dazu müssen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer selbst politisch werden, sich mit ihrem moralischen Denken kenntlich machen und in ihrer öffentlichen Teilnahme den Kindern und Jugendlichen Vorbild sein.

Würdigung durch die Theodor-Heuss-Medaille – Entwürdigung durch Vorgesetzte

Wunibald Heigl ist so ein Vorbild. Für seine politische Bildungsarbeit wurde ihm und seiner Arbeitsgruppe die Theodor-Heuss-Medaille verliehen: für den „beispielgebenden und ausdauernden Einsatz in der Auseinandersetzung mit ausländerfeindlichen und rechtsextremistischen Tendenzen in und außerhalb der Schule“. Im Rahmen dieser Verleihung, an der auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker teilnahm, wurde sein „nachahmenswertes Beispiel für Zivilcourage und vorbildliches Verhalten“ gewürdigt.

Nicht gewürdigt wird es hingegen von Schulleitung, Schulreferat und Kultusministerium. Deren Verhalten reicht bis zur Entwürdigung. So etwa, wenn in einer heimlichen Aktion 135 Klausuren aus zwei Jahren unter einem fadenscheinigen Vorwand nachkorrigiert wurden: ohne Gespräch mit dem Lehrer, ohne Erklärung, hinterrücks. Das folgt dem „Prinzip Lauschangriff“. Nie kam am Ende solcher Aktionen eine Klarstellung oder eine Entschuldigung der Vorgesetzten für das entwertende Verhalten. Und
was zum Bedrückendsten gehört: Es kommt keine Unterstützung von jenen Politikern und Amtsinhabern, die eine Rede halten würden wie ich das hier tue – aber nicht zur Stelle sind, wenn es darum geht, einem Bürger beizustehen, dem Unrecht geschieht.

Nicht Würdigung sondern Entwürdigung: Herr Heigl wurde bei einer dienstlichen Beurteilung um eine Note herabgestuft, obwohl er Fachbetreuer in Sozialkunde, Wirtschaft und Recht war, als Kollegstufenbetreuer arbeitete und sich aktiv im Personalrat einsetzte. Von den Schülern wurde er als Verbindungslehrer gewählt. Er ermöglichte Wahlunterricht in Wirtschaft und Politik und organisierte Veranstaltungen für die Schüler. Während der Ferien führte er Schulfahrten in die DDR durch. Zur Abiturvorbereitung hielt er sozialpolitische Wochenendseminare mit Landtagsabgeordneten.

Neben all dem arbeitet er aktiv in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mit. Er ist nicht nur Diplom-Kaufmann, sondern hat die Lehrbefähigung in Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde, Wirtschaft und gibt Englischunterricht. Vor fünf Jahren hat er zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ein Tagesheim für Schüler mitbegründet. Seit vierzehn Jahren leitet er eine von ihm ins Leben gerufene Initiative „Schüler helfen Schülern“: etwas Ungewöhnliches; denn die Schule ist üblicherweise nicht der Ort, an dem man sich um andere sorgt.

Über vierzig Kolleginnen und Kollegen des Gymnasiums empörten sich öffentlich durch ihre Unterschrift über die Herabstufung von Herrn Heigl, ohne Erfolg. Ein politisch handelnder, kritischer Lehrer sollte bestraft werden. Und allen anderen wurde ein einschüchterndes Beispiel vorgeführt.

Man kann Menschen zu „Zubeschulenden“ deformieren

Die Versuche, den Oberstudienrat Wunibald Heigl vom aufrechten Gang in die Knie zu zwingen, sind vielfältig. Zum Beispiel verdächtigten ihn Ministerium und Schulreferat der Unredlichkeit: Er würde in den von ihm geführten Leistungskursen „nicht das übliche und angemessene Anforderungsniveau erreichen“. Die Schnüffler entdeckten bei einer weiteren Geheimaktion, daß manche Schülerarbeiten weitgehend mit der Leistungserwartung des Lehrers übereinstimmten. Die Niedrigkeit in ihren Köpfen projizieren die Amtsverwalter in den von ihnen verfolgten Lehrer hinein: der könnte betrügen, denn  die Leistungsmessung bezog sich auf Arbeitspapiere in Händen der Schüler.

Das traf in der Tat zu: denn der Lehrer bereitete Unterricht und Klausur gut vor. Er behandelte den Lernstoff – unter anderem die „Weimarer Republik“ – in ungefähr zwanzig Doppelstunden; Über jede ließ er ein Protokoll verfassen. Dieses korrigierte und besprach er mit den Schülern, vervielfältigte es und gab es jedem an die Hand. Mit Hilfe der Protokolle und anderer Materialien konnten sich die Schüler auf die Prüfung vorbereiten und Gutes leisten.

Für die lernpsychologisch überlegte und sorgfältige Vorbereitung wird Wunibald Heigl aber nicht belobigt, sondern verdächtigt. Jedenfalls meint sein Vorgesetzter, Stadtdirektor Jürgen Lachner, in einem Brief – übrigens fern von einfachstem menschlichen Anstand ohne Anrede – an Herrn Heigl: Es läge möglicherweise , so schreibt der für Pädagogik verantwortliche Stadtdirektor, „ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Zubeschulenden“ vor. – Die „Zubeschulenden“ – in einem Wort geschrieben – eröffnen Schlimmes.

Die Autoren Sternberger, Storz und Süskind schreiben in dem auf das Naziregime bezogenen „Wörterbuch des Unmenschen“: „Soviel und welche Sprache einer spricht, soviel und solche Sache, Welt oder Natur ist ihm erschlossen“. Zubeschulende. „Und jedes Wort, das er redet, wandelt die Welt, worin er sich bewegt, wandelt ihn und seinen Ort in dieser Welt“: Zubeschulende. „Darum ist nichts gleichgültig an der Sprache, und nichts so wesentlich wie die Art und Weise, in der ein Mensch sich ausdrückt. Der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen.“ Zubeschulende: In ein modernes „Wörterbuch des Unmenschen“ gehört dieses Abscheu erregende Wort, in dem sich entseeltes bürokratisches Denken ausdrückt, das Menschen zu Sachen macht.

Wer von „Zubeschulenden“ spricht, stülpt den Schülern eine bürokratische Schule über. Er kann keine Menschen mehr wahrnehmen, keine Kinder mit Freuden und Nöten, mit Ängsten und Wünschen. In einem „Beschulungsprozeß“ stören humane Lehrer wie Wunibald Heigl. Denn sie wollen Menschen nicht zu „Zubeschulenden“ deformieren. Sie lassen sich ihr pädagogisches Gewissen nicht verbieten.

Schulische Erziehung als helfende Beziehung

Eltern wissen, wie zerstörerisch Schule in den Familienalltag eindringen kann: Wenn Kinder geängstigt werden, Leistungsdruck sie überfordert, die Diktatur der Schulaufgaben, Extemporalien und des Abgefragtwerdens sie in Dauerspannung versetzt. Da ist ein Gymnasiallehrer, von dem die Eltern sagen – ausgedrückt unter anderem durch den Elternbeirat des Werner-von-Siemens-Gymnasiums –

–   daß die Kinder mit Freude in den Englisch-Unterricht gehen.
–   daß sich der Lehrer in die Altersstufe hinein versetzt und den
    Anfangsunterricht behutsam und ermunternd gestaltet.
–   Die Kinder werden zu Leistungen angespornt, entwickeln
    Lernbereitschaft und Arbeitswillen.
–   Der Lehrer weiß um die persönlichkeitsbildende Kraft des
    Musischen: deshalb macht er mit den Schülern Theater – und die
    Eltern erkennen an, daß er dabei alle Kinder der 6. Klasse
    einbezieht.
–   Üblicherweise nimmt in der Schule das Lerninterese von Jahr
    zu Jahr ab; diesen Eltern fällt auf, mit wieviel
    Anstrengungsbereitschaft die Kinder den Unterricht besuchen.
–   Die Prüfungen sind nicht so angstmachend, weil die Schüler in
    der Vorbereitung unterstützt werden.
–   Die Kinder und Jugendlichen erleben das Interesse des Lehrers
    an ihrem Lernfortschritt.
–   Der Lehrer Wunibald Heigl bekommt ein Lob ausgesprochen, auf
    das jeder Erzieher stolz sein kann: wenn die Kinder von ihm
    sagen: „Mit dem kann man reden.“

Da ist ein Lehrer, der offensichtlich nicht erzieht, sondern zu seinen Schülern eine Beziehung eingeht. Er „führt“ nicht nur, sondern „geht nach“ und unterstützt: er stärkt das Ich der Kinder. Er praktiziert schulische Erziehung, die meine Begriffsbestimmung für Erziehung ausmacht, nämlich: eine helfende Beziehung.

Um die helfende Beziehung in der Schule verwirklichen zu können, brauchen wir pädagogische und demokratische Bedingungen. Deshalb leiten die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die AKTION HUMANE SCHULE; Elternverbände, der Deutsche Kinderschutzbund, die Humanistische Union und andere Initiativen ein VOLKSBEGEHREN BESSERE SCHULEN ein: für mehr pädagogische Freiheit, ein demokratisches Schulleben, für sinn-volles Lernen, kleine Klassen und verbesserte Bildungschancen.

Aufrechter Gang für eine eigenständig machende Erziehung

Aber braucht man denn zu der eben beschriebenen pädagogischen Haltung Zivilcourage und „aufrechten Gang“? – Ja. Denn Wunibald Heigl praktiziert eine emanzipatorische Pädagogik; und die wird derzeit viel geschmäht. Emanzipatorische Erziehung unterstützt die Selbstbestimmung, sie macht denkgewohnt und unabhängig. Sie stärkt die Abwehrkraft gegen Anpassung und leitet zum kritischen Argumentieren an. Sie befähigt dazu, demokratisch zu handeln und sich politisch einzumischen. All dies wird in den Vorworten zu Schulgesetzen hoch gepriesen. Wer es jedoch in die Tat umsetzt, muß gegen den Strom schwimmen: gegen den Strom reglementierender Vorschriften, angstmachender Druckausübung und auf Unterordnung beharrenden Denkens.

So wird heute von nicht wenigen in symptom-orientierter Beschränktheit und in ursachenorientierter Ahnungslosigkeit die emanzipatorische Erziehung für die Gewalt Jugendlicher verantwortlich gemacht. Dabei zeigen psychologische Erkenntnisse das Gegenteil: in ihrem Selbstwert tief verunsicherte und gestörte Jugendliche werden gewalttätig – nicht selbstbestimmte Jugendliche mit kritischer Wachsamkeit und eigenständigem Handeln.

Verleumdung der emanzipatorischen Pädagogik

Es ist Mode geworden, eigenständig machende Erziehung zu verleumden. Sie wird als Ursache für Mißstände in der Gesellschaft angeprangert. Nicht nur konservative Politiker und Denker tun dies. Es soll offenbar abgelenkt werden von dem, was unsere durchkapitalisierte Gesellschaft mit ihrer Logik des Geldes anrichtet, wo wir dringend die Logik der Mitmenschlichkeit brauchen.

Die Verdächtigung der emanzipatorischen Pädagogik zieht sich durch vom Bundeskanzler bis zum Alt-Bundeskanzler. Dieser, Helmut Schmidt, schrieb unlängst in der Wochenzeitung DIE ZEIT mit unglaublichem Mut zur Unwissenheit: „Die Emanzipationspädagogik hat die Tugenden des Kompromisses und der Solidarität in Frage gestellt. Sie hat unversehens individuelles Wohlleben, Rücksichtslosigkeit und Egoismus auf den Thron gesetzt. Die Folgen zeigen sich nun: vom rücksichtslosen Spekulantentum in Banken, Unternehmen – Gemeinwirtschaft und Gewerkschaften eingeschlossen – bis hin zu Gewalt im Fernsehen, in der Schule und bis zur Gewalttat solcher, die nie lernen konnten, sich einzufügen, weil sie keine Chance hatten, echte Gemeinschaft zu erleben.“

Dies ist eine Widerlegung der Emanzipationspädagogik durch Verunglimpfung. Oder sind etwa die in Serie auf ihren Eigennutz bedachten Politiker wegen emanzipatorischer Erziehung korrupt geworden? Zum Beispiel die zurückgetretenen Ministerpräsidenten Münch und Späth und Streibl. Wurden die Minister Krause oder Möllemann oder der Gewerkschaftsführer Steinkühler etwa durch Konfliktpädagogik profitsüchtig? Und sind die Hauptakteure der Flick-Affäre, Herr von Brauchitsch und der Ehrenvorsitzende der FDP, Graf Lambsdorff, durch die antiautoritäre Erziehung kriminell geworden?

Der frühere Bundeskanzler müßte zudem wissen, daß Gewalt im Fernsehen nicht durch die Emanzipationspädagogik über die Zuschauer hereinbrach, sondern durch die von uns gewählten Politiker. Sie ermöglichen ein am Profit orientiertes Fernsehen, bei dem es nicht mehr um Information, um die Bildung der Menschen, um Kultur geht. Vielmehr würden die Profiteure am liebsten nur noch überlegen, wie man das Werbefernsehen möglichst wenig unterbricht – und wenn, dann durch Mord- und Totschlag-Programme und durch Filme, bei denen sich die Zuschauer bewußtlos amüsieren: bewußtseinslos, damit sie süchtig konsumieren. – Die Verächter emanzipatorischer Pädagogik und Verunglimpfer der Konfliktpädagogik fordern heute mehr Autorität. Aber die müßten sie halt haben, die kann man nicht einfach machen oder verordnen.

Der hohe Preis für Zivilcourage

Wunibald Heigl hat sie. Wer sich verhält wie er, seine Meinung öffentlich erkennen läßt und für seine Überzeugung eintritt, auch wenn diese der Obrigkeit zuwider läuft, muß allerdings mit Benachteiligung rechnen. Das ist der hohe Preis für Zivilcourage: keine Beförderung, als Kollegstufenbetreuer abgesetzt, Herabstufung der dienstlichen Beurteilung, Drohungen, persönliche Verdächtigungen und Nachstellungen, heimliche Überprüfung von Schülerarbeiten, Behinderung in der pädagogischen Arbeit, Entwertung durch die Vorgesetzten. – Da ist es nicht einfach, durch das Gegengewicht des Zu-sich-selbst-Stehens die Balance zu halten. Wunibald Heigl schafft das, wo manche von uns längst krumm – und nicht mehr aufrecht gingen.

Und wie hält ein Mensch das aus? – Für mein Buch „Zivilcourage wagen“ stellte ich vielen bürgermutigen Menschen diese Frage. Bei aller Vielfalt der Antworten gab es ein leitendes Merkmal: die überzeugte Orientierung an menschlichen Grundwerten, an mitmenschlichen Tugenden – und der Wille, „das Rechte zu tun“. Wunibald Heigls eine Antwort macht den guten Lehrer aus: die Freude am Unterrichten, das Interesse am Lernstoff, die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern von der fünften bis zur dreizehnten Klasse, die Lust, innerhalb einer breiten Fächervielfalt zu lernen und zu lehren – kurz: Das unmittelbare Sicheinlassen mit Menschen und Sachen.

Das andere, das Wunibald Heigl aufrecht hält, klingt einfach: „Ich möchte so handeln, wie ich denke. Wofür ich eintrete und was ich den Schülern lehre, soll auch in dem was ich tue, sichtbar werden.“ Sich treu zu bleiben gibt ihm Kraft, gegen den Strom schulbehördlicher Einschüchterung und Schikane zu schwimmen. Durch sein zivilcouragiertes Handeln fühlt er sich im Einklang mit seinem Selbstbild; das stärkt den aufrechten Gang, stützt seine Selbstachtung und verleiht ihm – bei allen Widrigkeiten durch die Obrigkeit – das Erleben persönlichen Freiseins. Ihm liegt an der „Zusätzlichen Bedingung“ Erich Frieds:

Wichtig ist nicht nur,
daß ein Mensch das Richtige denkt,
sondern auch, daß der,
der das Richtige denkt,
ein Mensch ist.

Von zivilcouragiertem Handeln zu politischer Einmischung

Die zivilcouragierte Einmischung Wunibald Heigls beschränkt sich nicht auf das unmittelbare schulische Wirkungsfeld, sie mündet in politisches Handeln. So hat er beispielsweise dem Stadtrat einen Entwurf zugeleitet. In ihm geht es darum, eine Koordinationsstelle einzurichten zur Erziehung gegen Rassismus, Ausländerfreund-lichkeit und Gewalt im Bereich Münchner Schulen. Mitarbeiter einer solchen Einrichtung könnten Unterrichtsmaterialien ausarbeiten, Projekte von Schüler- und Jugendgruppen unterstützen, Schulen beraten, Ausstellungen aufbauen. Sie könnten Informationen für Lehrer , Erzieherinnen und Eltern vermitteln und wissenschaftliche Erkenntnisse aufbereiten zum Thema Ausländerfreundlichkeit, Gewaltverhütung und Rassismus. Der ausführliche Vorschlag an den Stadtrat ist innerhalb des Bemühens zu sehen, das Ganze unseres Lebens im Auge zu behalten. Nur wenn unsere Gesellschaft gesünder wird, wenn wir für die Heranwachsenden die Welt so gestalten, daß es sich darin zu leben lohnt, können Menschen gewaltfrei zusammenleben.

Im Wettlauf zwischen Erziehung und Katastrophe

Um dem näher zu kommen, brauchen wir zivilcouragierte Menschen. Denn es besteht die Gefahr, daß die Erde an der Gehorsamsbereitschaft ihrer Bewohner zu Grunde geht. Unter dem Motto „Sorge dich nicht, lebe!“ laufen wir sehenden Auges in die Katastrophe: fern-sehenden Auges. – Der Historiker Paul Kennedy meint in seinem Buch „In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert“:
Die globale Gesellschaft befindet sich in einem Wettlauf zwischen Erziehung und Katastrophe. Im Unterschied zu jeder anderen Zeit in der Geschichte der Menschheit geht es heute um die Überlebens-frage. “ Die Kräfte des Wandels, denen sich die Welt gegen-übersieht, sind so weitreichend, daß sie nichts geringeres als eine Neu-Erziehung der Menschheit erfordern.“

Zu dieser Neu-Erziehung der Menschheit sind wir aufgerufen. Leitprinzip von Erziehung und Unterricht muß die Bewahrung des Lebens sein. Das Schlagwort „Wissen ist Macht“ weicht der Erkenntnis: „Wissen macht für die Mitwelt verantwortlich.“ Wir sind herausgefordert, unser pädagogisches Gewissen nicht verstaatlichen zu lassen, sondern wach zu halten: den Gehorsam zu verweigern, wo uns Inhumanität vorgeschrieben wird, Lernumstände zu schaffen, in denen Hoffnung und Mut wachsen. Wir sind aufgerufen, phantasievoll über unsere Intelligenz zu verfügen, uns mit moralischer Überzeugung einzumischen – und mit der „Logik des Herzens“. Vorbilder helfen uns dabei – Vorbilder wie Wunibald Heigl. – Meine Hochachtung vor Ihrer pädagogischen Arbeit, meinen Dank für Ihr menschliches und politisches Engagement – auch jenen Lehrerinnen und Lehrern, die wie Sie den „aufrechten Gang“ wagen, meinen Respekt vor Ihrer Zivilcourage.

 

Benützte Literatur:
Kennedy, P.: In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert.
Frankfurt/Main 1993 (Fischer)

Schmidt, H.: Die Gewalt an den Wurzeln bekämpfen.
In: DIE ZEIT 1993/29

Singer, K.: Zivilcourage wagen – Wie man lernt, sich einzumischen. München 1992 (Piper)

Sternberger, D., Storz, G., Süskind, W.E.: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. München 1962 (dtv)

Referent:
Prof. Dr. Kurt Singer, Professor für Pädagogische Psychologie und Schulpädagogik, Universität München, Psychoanalytiker.
Heckenrosenstraße 8, 82031 Grünwald bei München

 

Weitere Informationen:

Festakt

Ankündigung und Begründung der Preisverleihung

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